257 - Braess' Paradox

Shownotes

April 1990 in New York: Eine der meistbefahrenen Straßen Manhattans, die 42nd Street, wird für ein Festival gesperrt. Die Medien prophezeien den Verkehrsinfarkt, Taxifahrer sprechen vom drohenden Chaos. Und dann? Passiert das Gegenteil. Statt Stau wirkt die Stadt auf einmal wie leergefegt – wie eine Geisterstadt. In dieser Folge geht es um ein Phänomen, das auf den ersten Blick paradox wirkt: Mehr Straßen können zu mehr Staus führen, weniger Straßen dagegen zu besserem Verkehr. Ein Effekt, den der Mathematiker Dietrich Braess bereits in den 1960er Jahren beschrieben hat – und der weit über den Verkehr hinaus Relevanz hat.

Denn das sogenannte Braess-Paradox zeigt: Auch in Organisationen können gut gemeinte Maßnahmen, neue Strukturen oder zusätzliche Optionen am Ende die Dinge verschlechtern. Warum das so ist, und was wir daraus über den Umgang mit komplexen Systemen lernen können – darum geht es in dieser Folge.

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https://en.wikipedia.org/wiki/Braess%27_paradox https://www.nytimes.com/1990/12/25/health/what-if-they-closed-42d-street-and-nobody-noticed.html https://homepage.rub.de/Dietrich.Braess/Paradox-BNW.pdf

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Transkript anzeigen

Das Braess Paradox

April 1990.

In Manhattan soll zum „Earth Day“ ein Festival stattfinden – die 42nd Street, eine der Hauptverkehrsadern der Stadt, wird gesperrt.

Die Medien warnen vor dem Verkehrsinfarkt. „Doomsday“ wird prophezeit.

Taxifahrer, Anwohner, Stadtplaner – alle erwarten das totale Chaos.

"You didn't need to be a rocket scientist or have a sophisticated computer queuing model to see that this could have been a major problem." sagte der Comissioner des New Yorker Transportation Departments

Die Stadt verfolge ihren Plan weiterhin - trotz der vielen Warnungen.

Und dann war er da - der Tag der Tage. Der Verkehrsinfarkt blieb aus. Kein Doomsday.

Im Gegenteil: Der umlegende Verkehr wurde flüssiger. Zeitungsartikel berichten, dass insgesamt 20% weniger Autos verzeichnet wurden.

Die Stadt wirkte – laut New York Times – wie eine „Geisterstadt“ im Vergleich zu normalen Tagen.

Doch ein Mann war nicht verwundert. Er hatte dieses Verhalten sogar vorhergesagt. Die Rede ist von dem deutschen Mathematiker Dietrich Braess. Er forschte um 1968 an Straßen-Netzwerken. Um seine Arbeit und um das Phänomen, das sich damals in New York zutrug, besser zu verstehen gehen wir ein ganz konkretes Beispiel gemeinsam durch.

Angenommen wir wollen in einer Stadt von einem Punkt A zu einem Punkt B. Für diese Strecke gibt es zwei mögliche Routen.

Die eine Route führt erst über eine sehr gut ausgebaute Autobahn am westlichen Stadtrand. Wir nehmen an, das auf diesem Teil der Route, der Verkehr vernachlässigbar ist. Unabhänig vom Verkehrsaufkommen brauchen wir für diesen Abschnitt immer 25 min. Danach mündet die Autobahn in eine weniger gut ausgebaute Stadtstraße, um zu unserem Ziel B zu gelangen. Wie lange wir für den letzten Abschnitt benötigen, hängt dieses Mal vom Verkehr ab. Für jede zusätzlichen 100 Autos, benötigen wir 1 weitere Minute. Ein schematisches Bild dazu findest du im zugehörigen Wikipedia-Artikel. Den Link findest du in den Show-Notes, wie alle anderen Quellen auch.

Die zweiten Route startet mit einer schlecht ausgebauten Stadtrasse, auf der wir für jede 100 Autos eine zusätzliche Minute brauchen. Diese Straße mündet dann in eine gut ausgebaute Autobahn, die uns unabhängig vom Verkehr, über den östlichen Stadtrand in 25 min zu unserem Ziel B bringt.

Beide Routen sind also zeitlich gesehen, identisch. Keine Route bietet einen eindeutigen Vorteil gegenüber der anderen.

Nehmen wir nun an, dass 2000 Autos von Punkt A nach Punkt B wollen. Da es keinen Vorteil bringt A oder B zu nehmen, gehen wir davon aus, dass sich die Autos 50/50 auf beide Routen aufteilen. D.h. 1000 Autos auf Route 1 und 1000 Autos auf Route 2.

Da wir für jede 100 Autos eine zusätzliche Minute benötigen, ergibt sich eine Gesamtfahrzeit von 35 Minuten.

25 Minuten für die Autobahn und weitere 10 min für die Stadtstraße. Soweit so klar.

Stellen wir uns nun vor, dass die Stadt Berater oder Beraterinnen engagiert, um die Fahrzeiten zu optimieren. Was würdest du tun? Wenn du magst, nimm dir gerne ein paar Minuten Zeit und denke darüber nach, welche Optionen möglich wären.

Eine Möglichkeit wäre beide Routen in der Stadt miteinander zu verbinden, um den Fahrern mehr Optionen zu bieten. Stadt über die Autobahnen am den östlichen und westlichen Stadtrand zu fahren, verbindet man die Stadtstraßen miteinander. Da hier ein hohes Verkehrsaufkommen erwartet wird, wird dieses Verbindungsstück wieder gut ausgebaut, sodass man immer genau 1 min benötigt.

Nun wäre die Fahrzeit drastisch reduziert. Ich benötige weiterhin 10 min für die Stadtraßen und nur 1 min für die Verbindungsstraße. Das sind 21min im Vergleich zu den 35 min über Route A oder B (die mit der Autobahn). Das Problem ist nur folgendes: Alle wollen nun von dieser optimierten Route profitieren und so wechseln alle Fahrer auf diese Route. Plötzlich fahren alle 2000 Autos diese Route und die Fahrzeit für die Stadtstraßen erhöht sich von 10 min auf 20 min, sodass die Gesamtfahrzeit plötzlich 41 min beträgt. Es zeigt sich also mal wieder: Auch wenn das Individuum für sich rational entscheidet, kann das Ergebnis des Gesamtsystems schlechter werden - und in Konsequenz für das Individuum auch.

Die Straße zu entfernen (also Optionen aus dem System zu nehmen) würde die Fahrzeit optimieren. Die gedachte Verbesserung eine neue Straße zu bauen, hat im Endeffekt zu einer Verschlimmbesserung geführt.

DAs ist also der Grund warum der Verkehr in New York besser wurde, als die 42nd Street für den Earth Day gesperrt wurde. Du könntest jetzt noch einwenden, dass sich der Verkehr natürlich Verbesser hat, weil an dem Tag viel mehr Menschen mit dem Fahrrad oder zu Fuß unterwegs waren. Aber Wissenschaftler haben 208 die gesamte Stadt modelliert und fanden 12 weitere Straßen, die entfernt werden könnten, um den Verkehr zu optimieren.

Gleiches fand man übrigens auch in Seoul, London, Paris usw. Wenn du zufällig eine Straße zu einem Straßennetz hinzufügst, hast du eine 50/50 Chance, dass der Verkehr schlechter wird.

Und da dieses Phänomen nicht auf Straßennetzwerke limitiert ist, sondern generell in Netzwerken gilt, findet man Braese's Paradox überall. Z.B. auch in Stromnetzen oder eben Organisationen. Ein schöner Fall, wie ich finde, der Zeigt, dass Veränderung durch Weglassen sinnvoll sein kann - und eine Erinnerung sich mit etwas Demut solchen komplexen System zu nähern, wenn man sie ändern möchte.

Quellen:

https://en.wikipedia.org/wiki/Braess%27_paradox

https://www.nytimes.com/1990/12/25/health/what-if-they-closed-42d-street-and-nobody-noticed.html

https://homepage.rub.de/Dietrich.Braess/Paradox-BNW.pdf

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